Festtackern

Es ist 2:22 Uhr. Ich lächle kurz, weil ich mich immer über diese Schnapszahlen freue. Dann wird mir Wein in meinen Plastikbecher gefüllt und ich nippe vorsichtig daran. Auch nach einigen Bieren und zwei Bechern Wein schmecke ich den Unterschied zwischen lieblichen und trockenen. Mein Gesichtsausdruck entgleist mir kurz.

Eine Stunde später kommt der Mitbewohner des Geburtstagskindes zurück in die Wohnung, pfeffert seine Hausschuhe in die Ecke. Aber nicht um zu tanzen, sondern um sich neben mir auf dem Sofa breit zu machen. Ich muss mein Gespräch mit meinem rechten Sitznachbarn unterbrechen. Den, den ich die ganze Zeit meinen Weinbecher an die Lippen halte. Es ist genug Wein in meinem Körper. Er lenkt den Mitbewohner ab, ich schenke unseren Wein in sein Glas.

Irgendwann sind die Erinnerungen nur noch sehr verschwommen. Es ist einfach zu früh am Morgen. Wer was fragt, nehme ich vor Weinmüdigkeit nicht mehr wahr. Der Mitbewohner schenkt uns teuren Rum ein, den richtig guten, bevor er ihn wieder in seinem Zimmer versteckt. Mein rechter Sitznachbar hat plötzlich statt des Bechers ein Glas in der Hand.

Schon nach ein paar Stunden habe ich sie alle gelesen. Sie sind wie offene Bücher. Der gutherzige Mensch auf dem Sofa gegenüber versucht auf Biegen und Brechen ein bisschen Nähe zu bekommen. Der Mitbewohner hat seine Trennung vor zwei Wochen noch nicht verkraftet, überspielt das Ganze aber mit viel Gleichgültigkeit. Die blonde, etwas arrogant wirkende Frau neben ihm ist nur unsicher und versucht ihre Sorgen durch anbaggern des Mitbewohners zu kompensieren. Der Typ neben mir ist angenervt und verletzt, weil seine Freundin nie zu Hause ist. Er greift nach meiner Hand und seine Finger verschränken sich mit meinen.

Mein moralisches Gewissen meldet sich. Statt los zu lassen, drücke ich fester zu. Nur um für den kurzen Moment ein bisschen Halt zu finden. Er erwidert den Druck. Sein hebräisches Tattoo blitzt unter seinem Pullikragen hervor. Die braunen Haare kräuseln sich wie Geschenkband am Mützenrand entlang. Eigentlich würde ich jetzt gerne mein Gesicht gegen seine Brust drücken,  einen fremden Geruch einatmen, aber ich will ihn da nicht mit hineinziehen. Mit kritischem Blick schaue ich ihm lange in die braunen Augen und sehe eigentlich nur blaue. Ich frage mich, welche Augen er gerade sieht. Die eines Mädchens, das gerade irgendwo in Skandinavien reist.

Wir drücken noch ein bisschen fester zu. Wir tackern uns fest.

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