Zugmensch

Eigentlich bin ich mit dem früheren Zug unterwegs, weil der spätere mir zu voll war. Immer steht man eng an eng, immer muss man Sorge habe, überhaupt noch einsteigen zu können. An diesem Montag, der Zug ist wieder extrem voll, obwohl es der frühere ist, sehe ich den jungen Mann zum ersten Mal. Bewusst zumindest. Wahrscheinlich ist er vorher auch schon da gewesen. Er kommt eine Minute bevor der Zug kommt mit dem Rad am Bahnhof an, huscht noch schnell mit rein. Wir stehen im Gang, dicht an dicht und ich schenke ihm keine weitere Beachtung.

Am nächsten Morgen ist der Zug leerer. Wir sitzen an zwei unterschiedlichen Orten, schauen uns an, lächeln. Ich steige aus und frage meine Freund:innen, wie sie jemanden im Zug ansprechen würden. Nur so, ich frage für eine Freundin. Es kommen sehr dumme Vorschläge. Ich habe eigentlich kein Problem damit, Leute anzusprechen. Aber der Zug erscheint mir dann doch als einer der unangenehmsten Orte dafür. Was ist, wenn er das total uncool findet? Dann muss ich den ja trotzdem noch jeden Tag sehen.

Es vergeht fast eine Woche, ohne dass er im Zug ist. Ich werde langsam nervös. Jetzt, wo ich mir vorgenommen habe, dass ich ihn einfach anquatschen werde. Wenn er M heißt, ist er eh raus.

Und dann ist Donnerstag. Der Zug hat Verspätung. Nach der dritten Person, die um die Ecke kommt, akzeptiere ich, dass er nicht mehr kommen wird. Plötzlich steht er dann doch da. Ich beobachte aus dem Augenwinkel was passiert. Nichts. Wir steigen ein. Der Zug ist leer. Ideale Bedingungen also. Ich setz mich in einen 4er, er auf die andere Seite des Gangs. Wir sitzen also quasi nebeneinander. Besser geht’s doch nicht. Wir schauen uns an, lächeln uns an und ich gucke weg. Meine Zugfahrt geht 13 Minuten. In den 13 Minuten schaffe ich es nicht, mir zu überlegen, was ich eigentlich sagen will.

Ich stehe auf, lächle ihn nochmal an, steige aus. Ärgre mich den gesamten Tag, dass ich ihn nicht angesprochen habe. Erzähle allen, dass er wieder da war und wie feige ich war. Selbst abends in der Halle, erzähle ich es noch Leuten. Die Halle ist voll. Ich bin mit S verabredet, wir bouldern ein bisschen vor uns hin. Als ich mich umdrehe und den Blick durch die Halle schweifen lasse, fall ich fast vom Glauben an. Da steht er. Der Zugmensch. Wir lächeln uns an.

irl15 Minuten beobachte ich ihn aus der Entfernung. Einfach nur, um auf Nummer sicher zu gehen. Dann geh ich rüber, setz mich neben ihn und sage: „Ich habe mal ne weirde Frage: Warst du heute Morgen im Zug?“ Die Antwort kommt ohne zögern: „Ja, wir saßen doch nebeneinander. Du bist in XX ausgestiegen.“ Exakt. Gut aufgepasst. Schön zu wissen, dass ich mir das Interesse nicht nur eingebildet habe. Wir quatschen also noch eine halbe Stunde, tauschen Nummern aus und ich gehe nach Hause – und erzähl den Leuten, dass ich jetzt den Mensch aus dem Zug kenne.

4 replies to “Zugmensch

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