Die Mauersegler kreischen. Sie zischen mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit zwischen den Häuserfronten entlang. Ist das die Freiheit? Das Münster ist in Gerüsten verpackt wie eine Nonne in ihre Kutte. Die Berge sind heute als Silhouetten im nebeligen Wolkendunst zu sehen. Nur der Säntis strahlt in voller Pracht und Klarheit. Ich sitze am Konstanzer Hafen auf einer Holzbank, die vom Wetter schon ganz grau und porös geworden ist. Mich interessieren die Tourist*innen nicht. Genau so wenig die Sehenswürdigkeiten, der Markt, das rege Treiben in den Straßen. Mich interessieren nur die Berge. In meinem Bauch zwickt es. Vielleicht von der körperliche Anstrengung des Radfahrens. Vielleicht ist es aber auch der Sehnsuchtsschmerz. Ich war lange nicht dort, in den Felsen. Auf den Gipfeln oder mit den Fingern festkrallend am Stein.
In der Dunkelheit bist du nackt, die Fassade, mit der du dich während des Tages umgibst, wird wirkungslos, nachts, wenn du die Grenzen zu dir selbst öffnest, wenn du über deine Geheimnisse nachgrübelst, Geheimnisse, die nur du selbst kennst und die du niemanden, gleich wem, sagen wirst. Wie du bist – wie du wirklich bist. […]
Was ist das schon für ein Leben alleine in den Felsen, in den Wänden, allein auf den Bergen herumzuirren. Allein sein ist doch schrecklich! Können dir die Berge Liebe geben? Du flüchtest dich doch nur in die Einsamkeit der Berge, weil du die Einsamkeit inmitten der vielen Menschen nicht ertragen kannst.
– Reinhard Karl: Die Kunst, einen Berg zu besteigen
Gestern habe ich das Buch von Reinhard Karl in einem durchgelesen. Es hat mich gepackt, weil ich mich an so vielen Stellen wiedergefunden habe. War nie Bergsteigen und selbst das Klettern habe ich vor Jahren aufgegeben, aber trotzdem steckt darin so viel Erklärung für mich selbst, obwohl es schien, als konnte er sich selbst nie erklären. Karl schien eine Seele zu sein, die sich in den Bergen immer wieder verloren und immer wieder wiedergefunden hat. Ich verliere mich tagtäglich und finde mich in kleinen Teilen immer wieder in der Natur, in den Bergen, am Fels. Oder in den verlorenen Seelen, die ebenfalls dort unterwegs sind.
Habe mich schon immer gefragt, warum mich Leute so faszinieren, die sich ambitionierte Ziele setzen. Ob es der nächste höchste Gipfel ist oder die nächste 8a beim Bouldern. Immer waren es die Leute, die unabhängig waren. Eigenständig, irgendwie auch als ein bisschen eigenartig gelten. Die sich verlieren. Die sich selbst ausreichen. Rational und wenig emotional. Zumindest wurden Gefühle nur selten gezeigt. Vielleicht habe ich mich in diesen Personen immer nur selbst wiedergefunden, weil sie mir so ähnlich sind. Vielleicht habe ich gedacht „wenn ich den verstehen lerne, dann verstehe ich auch irgendwann mich selbst“.
Das scheint ein Trugschluss. Ich habe weder die anderen, noch mich verstanden. Werde es auch wahrscheinlich nie verstehen. Werde weiterhin nachts die Fassaden aufgeben müssen, werde mich weiter suchen müssen. Werde noch unzählige Tage draußen verbringen, am Fels beim Bouldern, mir meine eigenen ambitionierten Ziele setzen müssen. Bis mich irgendwann jemand findet oder ich mich selbst finde.